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Der narzisstisch-autoritäre Sozialcharakter als spezifische Herausforderung in der Lehrkräftebildung – ein Risiko für die Demokratie? : Datum:

Das Siegener Projekt FAKTUR stieß bei der Analyse der Auswirkungen der Corona-Pandemie auf Indizien für narzisstisch-autoritäre Einstellungen des Sozialcharakters unter Studierenden. Ersten Hinweisen zufolge tragen sie dazu bei, dass im Rahmen des Studiums des Lehramts Berufskolleg diese Einstellungen nicht hinreichend professionsbezogen bearbeitet werden. Hieran gilt es weiter zu forschen, denn Lehrende „nehmen sich immer mit“ in schulischen und universitären Lehr-Lern-Settings.

Screenshot aus der 2D-Welt-FAKTUR, rechts im Bild sind zwei Mitarbeiterinnen des Projekts
Blick in die digitale 2D-Welt-FAKTUR: links die Oberfläche des neuen Lehr-Lern-Settings mit Avataren, rechts als Beispiel für den Blick hinter diese Oberfläche ein Video-Chat der Avatare, genauer gesagt der FAKTUR-Mitarbeiterinnen Katharina Gimbel und Sonja Köhler. © Universität Siegen/Ulrike Buchmann

Von Ulrike Buchmann, Katharina Gimbel, Raif Kesmez und Sonja Köhler

Aus Perspektive der kritischen Erziehungswissenschaft wurden alle Studierenden in den Lehramtsstudiengängen an Berufskollegs der Universität Siegen hinsichtlich ihrer Einstellungen im Zusammenhang von Corona, Studium, Medien und Nebentätigkeiten mittels eines sozialpsychologisch motivierten und vorstrukturierten quantitativen Fragebogens anonym befragt. Gemäß dem emanzipatorischen Erkenntnisinteresse in FAKTUR können Studiengänge, wie auch alle Curricula, nicht über reine Literaturarbeit am Schreibtisch entwickelt und verändert werden oder gar lediglich am grünen Tisch politischer Austragungen. Nach dem emanzipatorischen Erkenntnisinteresse ist vielmehr wissenschaftlich gesichertes Wissens über die Zielgruppe (Studierende des Lehramts) wichtig, um für sie ein passendes Lehr-Lern-Setting entwickeln zu können: Die Ergebnisse der Erhebung verraten dem Forschungsteam FAKTUR wie die Studierenden des Lehramts Berufskolleg „ticken“, beispielsweise womit sie sich beschäftigen, was sie antreibt, bewegt und besorgt. Die Erhebung steht nicht allein, sie ist in weitere Untersuchungen zur Zielgruppe eingebettet (Mixed-Methods-Setting), um gesichertes, also überprüfbares Wissen über die Studierenden zu erhalten, auf Basis dessen Curricula entwickelt, ausgelegt und pädagogische Settings praktisch umgesetzt werden können.

Überraschende Ergebnisse

Bekannte Zuschreibungen hinsichtlich der Zielgruppe der Berufskolleg-Studierenden lassen sich nicht bestätigen (zum Beispiel wohnt über die Hälfte der Befragten in Eigentumsverhältnissen der Eltern und übt bereits eine Beschäftigung, häufig in einer Schule aus, die den Umfang klassischer Studierenden-Nebenjobs übersteigt) und bedürfen einer Überprüfung; Differenzen im Umgang mit der Corona-Krise offenbaren sich; die Erfahrung von Kontroll- und Sicherheitsverlust lässt eine eher narzisstisch-autoritäre psychische Organisation der Studierenden zu Tage treten.
Die narzisstisch-autoritäre psychische Organisation zeigt sich beispielsweise in folgenden Praktiken: a) eher funktional ausgelebte Leistungsbereitschaft, b) eher starres Denken: dem Wunsch nach (einfachen) Lösungen für komplexe Probleme, c) nicht hinreichend ausgeprägtem Vermögen, in den komplexen Widersprüchen (professionell) handeln zu können und d) Einzelkämpfertum, das vorliegt, wenn Personen sich nicht hinreichend einlassen können auf andere Arten des Denkens, Fühlens und Handelns von Personen, mit denen sie zusammenarbeiten. Damit geht in der Regel auch eine Abwehr von unkonventionellen und komplexen Wegen der Bearbeitung einher.

Zentrale Hinweise:

• Die skizzierten Praktiken geben Hinweise auf einen sekundären Autoritarismus als spezifische Ausprägung des aktuellen narzisstisch formierten Sozialcharakters. Im Zusammenwirken der Begriffe „sekundärer Autoritarismus des narzisstisch formierten Sozialcharakters“ sind zwei Blickwinkel auf den aktuellen Sozialcharakter benannt, die aus Sicht des FAKTUR-Teams in Fragen der Lehrkräftebildung zusammen betrachtet werden müssen, um für die Studierenden passende Lehr-Lern-Settings entwickeln zu können: „sekundärer Autoritarismus“ betont die soziologische Dimension im Rahmen der Analyse des aktuellen Sozialcharakters während „narzisstisch“ die sozialpsychologische Dimension betont. Beide Dimensionen sind für die Ursachenanalyse des Wesens des Sozialcharakters relevant. Auf der Ebene der Praktiken unterscheiden sich ihre Erscheinungsformen eher nicht.
Die Ursachenanalyse ist in FAKTUR weitgehend offengeblieben. Im Rahmen der Erhebung wird der ermittelte Autoritarismus als „sekundär“ interpretiert, weil er sich gemäß den einschlägigen Forschungen dazu in der heutigen Gesellschaft der Bundesrepublik Deutschland nicht, jedenfalls nicht vordergründig, im Wechselspiel mit einer autoritären Bezugs- oder Führungsperson entwickelt, sondern vor allem auf sekundäre Weise entsteht, nämlich in den Wechselwirkungen von Subjekt und gegenwärtigem digitalem Kapitalismus. Zeigt sich nicht bearbeiteter sekundärer Autoritarismus in Lehr-Lern-Settings auch in primärer Form? Etwa dann, wenn schulische und universitäre Lehrpersonen autoritär handeln, beispielsweise indem sie wenig Interesse für Studierende beziehungsweise Schülerinnen und Schüler besitzen oder sie starre (Sanktions)Regeln aufstellen, die nicht professionell begründet sind. Auch diese Frage musste offenbleiben.

• Das Prinzip des Belohnungsaufschubs als Indikator für formale Bildung ist ambivalent hinsichtlich hoher Leistungsmotivation, da diese in der alltäglichen universitären Praxis zunächst auf akkumuliertes kulturelles Kapital (Verinnerlichte Kultur in Form von formaler Bildung, beispielsweise der Erwerb von pädagogischer Professionalität, der ein spezifisches Zusammenspiel von Sach-, Sozial- und Selbstkompetenz erfordert.) der Studierenden hinweist. Bei der empirischen Untersuchung korrelierte allerdings die hohe Leistungsmotivation mit narzisstisch-autoritären Items, was, entgegen der vordergründigen Interpretation, Hinweise auf sekundären Autoritarismus liefert.

• Vorsichtige Hinweise darauf, dass das Lehramtsstudium in aktueller Form und die Modelle des Quereinstiegs unterstützen, dass Dispositionen zum narzisstisch-autoritären Charakter bei den Studierenden zu Tage treten. Gesetzt den Fall, die Hinweise bestätigen sich weiter, würde die Institution Universität narzisstisch-autoritäre Dynamiken, durch die sie bedroht wird, und damit letztendlich auch die Demokratie, immer wieder selbst hervorrufen beziehungsweise nicht in Bearbeitung bringen.

• Eine hohe Diskrepanz zwischen gesellschaftlich zugeschriebener und tatsächlicher Relevanz der Bildungsinstitution Universität im Hinblick auf Demokratiesicherung.

Erhebungsdesign und 2D-Welt-FAKTUR

Die quantitative Untersuchung ist Teil des Mixed-Methods-Settings, das im Projekt FAKTUR (Manufaktur Lehrerbildung Berufskolleg) verfolgt wird, um Wissen über die Studierenden und gesellschaftlichen Veränderungen, die die Handlungsfelder Schule und Universität betreffen, zu gewinnen. Dies bedeutet eine Korrelation der Auswertungen des Fragebogens sowohl unter Rückbezug auf theoretische Bezüge (Sekundärdatenanalyse) als auch unter Bezugnahme auf qualitative Erhebungen (Primärdatenanalysen). Aus diesem Pool an Methoden ist in dem hier beleuchteten Zusammenhang insbesondere die Teilnehmende-Beobachtung während der fächerintegrierenden Studieneingangsphasen innerhalb der digitalen 2D-Welt-FAKTUR interessant. Die 2D-Welt-FAKTUR erweitert als neues Lehr-Lern-Setting Möglichkeiten der universitären Lehre unter Einbezug der Veränderungen im Bereich der digitalen Kultur (beispielsweise durch Nutzung neuer digitaler Bildkulturen).

Die digitale 2D-Welt-FAKTUR ist eine auf der Open Source Software workadventure basierende Online-Plattform mit gestalteten virtuellen Räumen mit Funktionen zu Video-Chat und Peer-to-Peer Kommunikation zwischen steuerbaren Avataren. Trotz der zweidimensionalen Darstellung, die an Pac-Man-Videospiele erinnert, ist ein immersives Erlebnis möglich, wie auch formelle oder eher informelle Interaktionen über die Plattform ermöglicht werden, die von Personen mit selbst erstellten Avataren betreten wird. Die digitale 2D-Welt-FAKTUR besitzt verschiedene Kartenbereiche, die die Studierenden auf verschiedene, zum Teil konträre Art, adressieren. Jene Kartenbereiche, die die Studierenden eher starr-funktional zur Information und Kommunikation adressieren, bedienen ihre Erwartungshaltung an ein Studium zwar, leisten allerdings keinen Beitrag dazu, dass ihre vorwissenschaftlichen Einstellungen und habituellen Praktiken in Bearbeitung gebracht werden können und ein differenziertes Weltbild im Hinblick auf das komplexe Handlungsfeld Schule ausgebildet werden kann. Einen Beitrag dazu leisten hingegen die komplexen Repräsentationen innerhalb der pädagogisch-lebendig gestalteten Bereiche der 2D-Welt-FAKTUR, die zuweilen die Erwartungshaltungen der Studierenden an ihr Studium irritieren und dazu beitragen, dass Studierende kulturelles Kapital akkumulieren können, mithin pädagogische Professionalität.

Notwendigkeit zur Überprüfung und Analyse

Das Lehramtsstudium-Berufskolleg hat darauf vorzubereiten, dass Studierende über die heranzuziehenden theoretischen Referenzbezüge verfügen: a) zur Erschließung der in sich komplexer werdenden gesellschaftlichen Realbedingungen (unter anderem Digitalisierung) und b) zur Bewältigung der analytischen und konzeptionellen Herausforderungen der täglich von Lehrkräften zu leistenden Vermittlungs- und Repräsentationsarbeit auf höchstem Anspruchsniveau, das üblicherweise Professionen wie beispielsweise Medizin und Jura zugeschrieben wird.

Sollten sich die Hinweise auf einen narzisstisch-autoritären Sozialcharakter verhärten, ist dieser eben nicht nur bei den Studierenden zu finden, sondern tendenziell bei allen Gesellschaftsmitgliedern. Demnach eben auch tendenziell bei sämtlichen Personen, die an der Lehrkräftebildung-Berufskolleg beteiligt sind (zum Beispiel Dozierende oder Prüfende) wie auch im Handlungsfeld Schule (zum Beispiel Schülerinnen und Schüler, Lehrerinnen und Lehrer, Eltern). Eine Annahme wäre, dass sich im Rahmen von Lehr-Lern-Settings narzisstisch-autoritäre Einstellungen gar verhärten, wenn sie auf narzisstisch-autoritäre Einstellungen treffen. Es gilt diese Annahme zu überprüfen.

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Sämtliche Lehrende „nehmen sich immer mit“ in schulischen und universitären Lehr-Lern-Settings. Das heißt, sie haben habituelle Prägungen verinnerlicht, die nur dann hinreichend reflektiert einfließen, wenn im jeweiligen Fall pädagogische Professionalität entwickelt wurde.

Erkenntnisse des FAKTUR-Teams

Gesetzt den Fall, die Hinweise bestätigen sich, wäre ferner die Analyse der Frage von Interesse, wie sich narzisstisch-autoritäre Einstellungen gemäß der pädagogischen Professionalität in Bearbeitung bringen lassen, so dass nichts Geringeres als die Demokratie gesichert werden kann. Lediglich Lehrkräfte, die über pädagogische Professionalität verfügen, können dem demokratisch verfassten Bildungsauftrag gerecht werden, was auch für Dozierende an Universitäten gilt. Sämtliche Lehrende „nehmen sich immer mit“ in schulischen und universitären Lehr-Lern-Settings. Das heißt, sie haben habituelle Prägungen verinnerlicht, die nur dann hinreichend reflektiert einfließen, wenn im jeweiligen Fall pädagogische Professionalität entwickelt wurde. Der skizzierte Zusammenhang markiert eine zentrale Herausforderung der Lehrkräftebildung, sollten sich die Hinweise auf narzisstisch-autoritäre Einstellungen bestätigen.

Das innovative Lehr-Lernformat der digitalen 2D-Welt-FAKTUR, die keine Alternative zur, sondern eine Erweiterung der Präsenz-Lehre darstellt, kann mit jenen Kartenbereichen, die angemessene Repräsentationen zur Verfügung stellen, zur Bearbeitung der identifizierten Einstellungen einen Beitrag leisten.

Ausblick: Relevanz für die zukünftige Gestaltung der Lehrkräftebildung im Hinblick auf Demokratie

Das Team von FAKTUR wünscht sich für die Zukunft, die Forschungsdesiderate weiter in Aufklärung bringen zu können, um weitere Erkenntnisse für die zukünftige Gestaltung der Lehrkräftebildung und ihrer Rolle in der Demokratie zu gewinnen. Anhand der skizzierten offenen Fragen vermögen Forschende Wesentliches aufzudecken und in Bearbeitung zu bringen, nicht zuletzt da die Lehrkräftebildung einen unhintergehbaren Auftrag für die Sicherung der Demokratie besitzt.

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Angesicht der Multiplikatorfunktion von Lehrkräften im Hinblick auf gesellschaftliche Reproduktion stellen nicht bearbeitete narzisstisch-autoritäre Einstellungen eine anhaltende Bedrohung für die Demokratie dar, die für den geschilderten Fall durch fehlgeleitete politische Steuerung selbst verursacht worden wäre.

Erkenntnisse des FAKTUR-Teams

Politische Überlegungen in Nordrhein-Westfalen, das Lehramtsstudium Berufskolleg an die Hochschulen für angewandte Wissenschaften oder in angewandte Studiengänge zu überführen, tragen nicht einmal dazu bei, den akuten Lehrkräftemangel zahlenmäßig abzumildern. Allen bisherigen Ergebnissen von FAKTUR zufolge hätten sie zudem einen hohen Preis, wenn auf das komplexe Handlungsfeld Schule (noch) weniger vorbereitet werden würde als es aktuell der Fall ist: Der Pragmatismus anwendungsorientierter Settings dürfte nach aktuellem Stand des Wissens nicht dazu geeignet sein, die ermittelten narzisstisch-autoritären Einstellungen in Bearbeitung zu bringen, denn Lernen im Sinne pädagogischer Professionalität ist nicht das unmittelbare Ergebnis von Lehren, sondern bedarf der Vermittlung.

Nicht zuletzt zur Sicherung der Demokratie müssen Studierende des Lehramts Berufskolleg ihr zukünftiges Handlungsfeld in seiner Komplexität wahrnehmen, theoretisch rückangebunden auslegen und urteilsfähig gestalten können: Angesicht der Multiplikatorfunktion von Lehrkräften im Hinblick auf gesellschaftliche Reproduktion stellen nicht bearbeitete narzisstisch-autoritäre Einstellungen eine anhaltende Bedrohung für die Demokratie dar, die für den geschilderten Fall durch fehlgeleitete politische Steuerung selbst verursacht worden wäre. Hingegen gilt es die Ursachen der narzisstisch-autoritären Einstellungen von allen an der Lehrkräftebildung beteiligten Personen weiter zu analysieren, um darauf basierend geeignete Lehr-Lern-Settings zu entwickeln, die diese zugunsten von pädagogisch professionellen Einstellungen in Bearbeitung bringen. Erst dann wäre und würde dem Bildungsauftrag Rechnung getragen.


Ulrike Buchmann ist Professorin für Erziehungswissenschaft mit dem Schwerpunkt Berufs- und Wirtschaftspädagogik an der Universität Siegen.
Katharina Gimbel, Raif Kesmez und Sonja Köhler sind Wissenschaftliche Mitarbeitende im Arbeitsbereich Erziehungswissenschaft mit dem Schwerpunkt Berufs- und Wirtschaftspädagogik an der Universität Siegen.